Auf dem Weg nach Jerusalem

Maria von Magdala erzählt

Das Paschafest ist nah – wir ziehen nach Jerusalem hinauf.
Heuer ist alles anders. Die Stimmung im ganzen Land ist aufgeheizt. Überall patrouillieren römische Soldaten und treiben beieinanderstehende Menschen auseinander.

Auch Jesus ist anders. Er wirkt ernst, angespannt, manchmal traurig. Immer wieder spricht er von Leid und Tod, redet davon, dass die Pharisäer ihn verurteilen und hinrichten werden. Unter uns ist gereizte Stimmung. Die Jünger streiten häufig.   
Ich selber bin bedrückt. Ich fühle mich Jesus nah, ja – und dann wieder ist da etwas Befremdliches. Ich ahne dumpf: Das mit der Verurteilung stimmt. Gestern hörte ich, wie eine Frau am Weg ihrer Nachbarin zuflüsterte: „Der da drüben, das ist doch dieser Jesus, den sie umbringen wollen …?“
Warum gehen wir dann weiter? Jesus weiß es, und geht weiter… warum nur? Immer wieder reagiert er so anders als wir es erwarten. Ich habe Angst.  

Ich hänge noch meinen Gedanken nach, da sehe ich, dass zwei Jünger einen Esel bringen. Sie legen ihre Umhänge auf das Tier und lassen Jesus aufsitzen. Was hat er vor? Nach wenigen Metern passiert es: Die Leute auf der Straße laufen herbei, legen ihre Kleider auf den Weg und beginnen zu rufen: „Hosanna dem Sohne Davids!“ Der Esel geht langsam mit Jesus auf dem Rücken die Straße entlang, direkt auf das Haupttor Jerusalems zu – wir ziehen ein. Immer mehr Menschen kommen aus den Seitengassen, werfen ihre Mäntel auf die Straße, reißen Zweige ab, schwenken sie oder streuen sie auf den Weg – und die Rufe werden lauter: „Hosanna dem Sohn David! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn...“ Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Das sind Texte aus dem Propheten Jesaja! Ich kenne sie gut: „Sagt der Tochter Zion: Sieh, dein König kommt zu Dir. Er ist friedfertig und er reitet auf einer Eselin…“ Deshalb der Esel! Deshalb lässt er es geschehen! Aber die Menschen verstehen nicht! Der König bei Jesaja, das ist ein ganz anderer König! Was sie hier machen ist gefährlich!

Die Menschenmenge wächst. Jetzt rufen ganze Chöre. Ich sehe die ersten Pharisäer. Meine Angst wächst. „Aufhören,“ schreien sie, „sofort aufhören…“ Mein Herz klopft bis zum Hals … die vielen Menschen, außer Rand und Band … sollte es jetzt soweit sein? Fassen sie ihn jetzt?
Ein Pharisäer, flankiert von der bewaffneten Tempelwache, bahnt sich den Weg bis zu Jesus und befiehlt: „Sag den Leuten, sie sollen aufhören! Sofort! Bring deine Jünger zum Schweigen!“ Jetzt wird Jesus ein Machtwort sprechen, denke ich, jetzt wird er dafür sorgen, dass Ruhe einkehrt. Und Jesus richtet sich auf … und ich atme durch … da höre ich ihn, klar und sicher, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet : „Ich sag euch: Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien!“ Laut hallen die Worte über den Platz.
Sekundenlang ist es totenstill. Mich fröstelt, mir wird schwindelig. Ich schließe die Augen. Da steigt ein Bild in mir auf: Ich sehe Jesus, eine Dornenkrone auf dem Kopf, Blut und Schweiß laufen übers Gesicht. Und die Menschenmenge brüllt: „Wir haben keinen König als den Kaiser! Ans Kreuz mit ihm! Ans Kreuz mit ihm!“ Ich höre Hammerschläge. Mich durchzuckt ein stechender Schmerz. Ich taumle, öffne die Augen weit und atme tief – das Bild ist weg. „Hosanna dem Sohne David!“ rufen sie wieder, lauter als zuvor. Die Sonne scheint warm. Ich blinzle in die Menschenmenge und suche Jesus. Da blickt ER mich an. Und in diesem Blick ist alles: tiefes Wissen, Klarheit, Entschlossenheit, Schmerz, Einsamkeit… und eine unvorstellbare Liebe.

Jetzt verstehe ich.
Ja, es kommen entsetzliche Tage. Sie werden ihn hinrichten.
Ich erwidere seinen Blick und lege alle meinen Mut, all meine Liebe hinein:
Was auch kommen mag, ich bleibe bei dir. Verrat, Verlassenheit, Schmerz – ich bleibe bei dir. Ich traue dir. Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht wann – doch am Ende wird das Leben siegen.

 

Sr. Martina Selmaier

"Wenn es dir gut tut, dann komm!"

(Franz von Assisi)